(Ein Bericht von Andreas Jagodzinsky, 05.10.2023)

Rückblende:

 

„Ich nutze diesen Titelgewinn, um von dem Trainerposten umgehend zurückzutreten. Was soll man mehr erreichen?“

 

Das waren meine letzten Worte aus dem Bericht über die Deutschen Ländermeisterschaften 2022 (https://schach-in-nrw.de/den-deutsche-laendermeisterschaft-titel-zurueckgeholt/)

 

Nachdem die Landestrainerin Carmen Voicu-Jagodzinsky 2022 ein spielstarkes Team zusammengestellt hatte, das um die Medaillen mitspielen sollte, konnte sie aus dringenden privaten Gründen nicht zur DLM nach Wiesbaden reisen. Ich übernahm kurzfristig ihre Aufgabe und durfte am Ende einen verlustpunktfreien Titel mitfeiern, wobei die Einschränkung geboten ist, dass ich zur Siegerehrung bereits nicht mehr vor Ort weilte.

 

Mehr als sieben Siege in sieben Spielen geht nicht. Und so war der Entschluss, dass es sich um eine einmalige Angelegenheit gehandelt hat, schnell gefasst.

 

Aber bereits im Sommer zeichnete sich ab, dass Carmen auch in diesem Jahr Probleme haben würde, die NRW-Auswahl zu betreuen. Und irgendwann war mein Widerstand gebrochen.

 

Bei der Auswahl der Spielerinnen und Spieler war mir wichtig, dass möglichst wenige Spieler aus der Mannschaft von 2022 dabei waren.

Warum? Nun, dazu reicht schon ein Blick auf die Fußballweltmeistermannschaft von 2014, die zu einem großen Teil auch 2018 mit demselben Trainer an den Start ging und kläglich versagt hat.

Und auch die DLM-Sieger 2020 hatten 2021 nie etwas mit dem Titelgewinn zu tun.

Es ist ein Unterschied, ob Trainer und Mannschaft zum ersten Mal einen Titel gewinnen oder aber als Titelverteidiger gemeinsam zurückkehren.

In den entscheidenden Kämpfen fehlen oft ein paar Prozentpunkte. Außerdem kritisiert man wahrscheinlich ungerne Spieler, mit denen man die Erinnerung an einen gemeinsamen Titel verbindet.

 

Einige Spielerinnen und Spieler passten altersmäßig ohnehin nicht. Andere waren in lange geplanten Herbsturlauben. Alexander Krastev spielte zeitgleich den Europapokal.

 

Und so fiel die Wahl auf folgende Spielerinnen und Spieler:

 

 

Brett 1: FM Hussain Besou (Turm Lippstadt)

 

Der Jüngste spielte an Brett 1. Über Hussain muss man nicht mehr viel erzählen. Mit 12 Jahren ist er einer der weltbesten Spieler in seiner Altersklasse. Mit seiner vierten DLM-Teilnahme gehörte er schon zu den Routiniers.

 

Brett 2: FM Jonas Gallasch (SG Porz)

Als Alexander Krastev absagte, fiel der Führungsspieler der Mannschaft aus. Eine klare Teamhierarchie begünstigt Turniererfolge. Ein bis zwei Führungsspieler, die nicht nur ihr eigenes Ergebnis im Blick haben, sondern vorrangig am Mannschaftserfolg interessiert sind und das auch den jüngeren Spielern vorleben, sind für die Teamchemie oft entscheidend.

Jonas, war für diese Rolle aufgrund seiner Spielstärke, seines Alters und dem trotz seiner Spielstärke noch nicht überfüllten Trophäenschrank der richtige Kandidat.

Um es vorwegzunehmen: er übererfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen.

 

Brett 3: Kai Spriesterbach (SV Erkenschwick)

Der erste Debütant. In den vergangenen Monaten hatte er sich kontinuierlich verbessert. Seine Ergebnisse und auch seine Partien machten ihn zu einem vielversprechenden Kandidaten für die Mannschaft.

 

Brett 4: Maurin Möller (Blauer Springer Paderborn)

2022 debütierte er in der NRW-Auswahl und holte unglaubliche 7/7. Da er sich auf dem höheren Niveau auch in der U16 stabilisiert hat, lag es nahe, ihn wieder mitzunehmen. Mehrfach konnte ich vor Runden Spieler von gegnerischen Mannschaften hören, die in ehrfürchtigem Flüsterton einem Teamkollegen zuflüsterten „Der hat letztes Jahr alles gewonnen.“

 

Brett 5: Philipp Klaska (Düsseldorfer SK)

Ebenfalls neu im Team war Philipp. Letztes Jahr war es eine hauchdünne Entscheidung zwischen Maurin und ihm, bei dem ein wenig den Ausschlag gab, dass es für Maurin die letzte Chance in der U14 war. Philipp konnte sich im letzten Jahr enorm verbessern und sich über 2100 DWZ etablieren.

 

Brett 6: Yaroslava Sereda (SG Solingen)

Yaroslava konnte 2022 und 2023 Bronze bei den Deutschen Einzelmeisterschaften U16w gewinnen. Auch in der Frauenbundesliga sammelte sie Erfahrungen. Und mit der NRW-Auswahl könnte sie in Braunfels bei den Deutschen Meisterschaften der Landesverbände der Frauen dreimal in Folge den Titel holen. 2019 gehörte sie schon einmal zum DLM-Team.

 

Brett 7: Eva Rudolph (Düsseldorfer SK)

Eva ist die Spielerin mit den meisten Einsätzen für NRW. Auch wenn sie studienbedingt nicht mehr so viel spielt, sollte sie an Brett 7 in der Lage sein, die Mannschaft zu unterstützen. Außerdem sollte sie ein wenig bei den Mädchen die Rolle spielen, die Jonas bei den Jungen zukam.

 

Brett 8: Alicia Kovalskyy (Düsseldorfer SV)

Auch für Alicia war es der erste Einsatz in der NRW-Auswahl. Zwar war sie nominell die beste U12w-Spielerin des Turniers, aber man darf auf keinen Fall unterschätzen, was es bedeutet, wenn man zum ersten Mal in einem solchen Mannschaftswettbewerb spielt. Der Druck, den sich vor allem die Spieler selbst machen, ist nicht unbedingt leistungsfördernd. Jedenfalls nicht sofort, sondern vermutlich erst auf lange Sicht.

 

Zweiter Trainer war wie in den vergangenen Jahren André Wolf (Lieme), der nicht nur eine unschätzbare Hilfe bei der Eröffnungsvorbereitung ist, sondern auch bei der Suche nach Essen. Den nach Wiesbaden 2022, die nach dem Motto „Kochen ohne Fleisch und Gewürze“ ihren Speiseplan aufstellten, hieß es dieses Jahr in Hannover: „Kochen, ohne zu kochen – alles, was man aus Dosen, Eimern und Tomatenpulver zaubern kann“.

 

Außerdem gehörten noch Julia, die Mutter von Alicia und Mustafa, der Vater von Hussain unserer Delegation an.

 

Die Anreise nach Hannover erfolgte am Samstag, den 01.10.2023. Ich hätte den Rhythmus vom vergangenen Jahr mit Anreise am Freitag, drei Doppel- und einer Einzelrunde bevorzugt, weil es Urlaubstage gespart hätte. Aber für die Spieler war es so sicher angenehmer.

Nach einer kurzen Mannschaftssitzung und einigen Einzelgesprächen begann schon die Vorbereitung auf das erste Spiel.

 

02.10.2023

08.30 Uhr Runde 1: NRW – Bayern

Bayern, der Sieger von 2021, der Setzlistenerste von 2022, dieses Mal nur an acht gesetzt. Trotzdem darf man diese Mannschaft nie unterschätzen. Ich bin mir allerdings nicht so sicher, ob das wirklich all unseren Spielern bewusst war.

Jonas kam ganz schlecht aus der Eröffnung.

Yaroslava und Eva wackelten auch zwischendurch. Doch irgendwann setzte sich die größere Spielstärke auf unserer Seite durch. Jonas hatte ausgeglichen. Und Alicia und Maurin (der achte Sieg in Folge) brachten uns in Führung. Als dann auch noch Jonas gewann, war der Kampf gelaufen. Die unnötige Niederlage von Hussain aus Gewinnstellung heraus fiel nicht mehr ins Gewicht.

Am Ende gewann auch noch Kai, so dass wir mit 5,5-2,5 vielleicht ein wenig zu hoch gewinnen konnten.

 

15.00 Uhr: Runde 2: Schleswig-Holstein – NRW

Mehr als eine Stunde lang war dieser Kampf völlig aussichtslos für uns. Die Norddeutschen hatten uns an den Rand der Niederlage gebracht.

Als ich nach einer längeren Pause den Turniersaal betrat, bot sich mir ein Bild des Grauens. Eva stand völlig aussichtslos und hatte drei Bauern weniger. Alicia hatte eine Qualität weniger. Angenehmer standen allenfalls Kai und Jonas. Wobei Jonas objektiv Vorteil hatte, der aber nach einem ausgelassenen Gewinn schwer verwertbar schien.

Maurin hatte sich längst von seinem Gegner zum Remis „abklammern“ lassen.

Das Glück schien sich wieder uns zuzuwenden, als Evas Gegner einige Bauern einstellte und ein haltbares Endspiel entstand. Auch Alicia schien nun wieder alles unter Kontrolle zu haben. Dafür hatte Kai seinen Vorteil verspielt.

Doch Eva misshandelte das Endspiel und verlor doch noch. Nachdem Yaroslava eine Gewinnchance ausgelassen hatte und Remis gespielt hatte, hatte auch Hussain Remis gespielt, was in Ordnung war. Doch dann stellte Alicia eine Figur ein und spielte in der Folge mit vier Bauern gegen Turm und zwei Bauern. Da sie nicht einmal einen Freibauern hatte, war die Stellung hoffnungslos. Als dann noch Kai Remis machte, schien der Kampf endgültig verloren. Auch Jonas stand objektiv auf Remis. Philipp arbeitete in einem ausgeglichenen Springerendspiel unermüdlich weiter.

Und dann kam das Wunder von Hannover. Alicia war fertig. Ich sah, wie Partieformulare unterschrieben wurden und wollte unsere Jüngste trösten. Doch etwas störte den Gesamteindruck. Warum stand auf dem Formular Remis? Des Rätsels Lösung: ihre Gegnerin hatte den Überblick verloren und die Stellung dreimal wiederholt. Alicia hatte umgehend reklamiert und eine verlorene Stellung gerettet.

Diese Rettung verlieh Jonas und Philipp Flügel. Beide gewannen ihre Endspiele, so dass wir glücklich 4,5-3,5 gewonnen hatten. Wieder mal zeigte sich, dass wir bei nicht mehr als einer Niederlage pro Kampf normalerweise gewinnen sollten.

Zur Belohnung gönnte sich ein Großteil der Mannschaft Pizza.

 

02.10.2023

08.30 Uhr: Runde 3: NRW – Sachsen

 

Die beiden verlustpunktfreien Mannschaften treffen aufeinander.

Hussains Partie bietet Anlass zur Sorge. Ihm misslingt die Eröffnung völlig, und er balanciert am Abgrund.

Dafür überrennt Alicia ihre Gegnerin. Und auch Maurin kehrt wieder in die Erfolgsspur zurück. Schnell heißt es 2,5-0,5, da Jonas früh Remis gespielt hat. Nur Eva steht schlecht.

Als irgendwann Hussain seine Stellung in den Griff bekommt, ist der Kampf jedoch entschieden. Spannung kommt nicht mehr auf. Er hält genauso Remis wie Eva. Remis macht auch Philipp, der aber lange am Drücker ist. Kai und Yaroslava gewinnen, so dass wir mit 6-2 die Oberhand behalten.

 

Am spielfreien Nachmittag gehen wir zuerst gemeinsam auf das Hannoveraner Oktoberfest. Abends steht dann die Vorbereitung auf unseren ärgsten Verfolger, die zweitgesetzte Hessen-Auswahl an.

 

03.10.2023

08.30 Uhr: Runde 4: Hessen – NRW

 

Wieder eine Doppelrunde. NRW steht jetzt bei unglaublichen zehn Siegen in Serie. Ich erneuere meinen Wunsch vom Samstag, dass wir wieder mit sieben Siegen das Turnier gewinnen.

Aber um es vorwegzunehmen: der Kampf wird zum Desaster: André und ich frühstücken üblicherweise direkt nach Rundenbeginn. Als nach gut 30 Minuten die ersten Livepartien online sind, stellen wir fassungslos fest, dass Alicia Dame und Turm weniger hat, nachdem sie einen Zwischenzug übersehen hat.

Ausgerechnet an den beiden hinteren Brettern, wo Hessen jeweils 0/3 hat, sieht es katastrophal aus. Zwar spielt Yaroslava eine tolle Partie. Aber als Jonas seine Partie verliert, ist der Kampf fast hoffnungslos. Hussain verpasst in einer tollen Partie gegen den elostärksten Spieler des Turniers einen Sieg und verliert. Beim Stand von 2-5 betreibt Philipp mit einem Sieg Ergebniskosmetik.

Hessen übernimmt die Tabellenführung. Die Stimmung ist gedrückt.

Es bleibt nicht viel Zeit, um sich zu sammeln, da es schon um 15.00 Uhr weitergehen sollte.

 

15.00 Uhr: Runde 5: NRW - Niedersachsen

Der nächste schwere Gegner wartet auf uns.

Und unsere beiden hinteren Bretter befinden sich in einer Krise.

Der Kampf beginnt nicht gut: Die Mannschaft wirkt jetzt schwer gezeichnet. Maurin hat sich von der allgemeinen Verunsicherung anstecken lassen und stellt in einer bekannten Eröffnungsvariante einen Bauern ein.

Alicia kommt mit der entstandenen Stellung überhaupt nicht zurück. Und Eva hat ihr Selbstvertrauen endgültig verloren. Jonas bekommt nach dem Desaster am Vormittag auch keinen richtigen Zugriff auf seinen Gegner. Trotz allem ist sein früher Remisschluss vermutlich richtig.

Die Einzige, die nach zwei Siegen in Folge unbeeindruckt von den Geschehnissen am Vormittag scheint, ist Yaroslava. Sie erteilt ihrem Gegner eine Lektion in Sachen Eröffnungsvorbereitung. Sie und ihr Gegner hatten vermutlich beide Yaroslavas nicht ganz fehlerfreie Partie in der Variante von den Deutschen Meisterschaften auf dem Brett. Man kann dem jüngeren Gegenspieler die Freude, das Yaroslava ihre Variante wiederholt deutlich im Gesicht ablesen. Doch unsere Spielerin weicht als erste ab. Offenbar beseelt von dem Wunsch, seine Gegnerin nicht merken zu lassen, dass seine Vorbereitung jetzt beendet ist, spielt er noch einigermaßen schnell zwei weitere Züge, nach denen er aber schon kritisch steht. Die Partie wird nicht mehr lange dauern.

Irgendwann laufen beim Stand von 2,5-2,5 nur noch die Partien von Kai, Maurin und Philipp. Philipp stand die ganze Zeit besser, was für die anderen Spieler natürlich wichtig war. Kai steht unklar. Und Maurin hat seine schlechte Stellung erst ausgeglichen und mittlerweile ein besseres Endspiel.

Als Philipp gerade anfängt, sich bei der Verwertung seines Vorteils etwas zu verlaufen, stellt der Gegner von Kai einen Bauern und damit die Partie ein. Und auch Maurin steht im Endspiel auf Gewinn.

Am Ende gewinnen alle drei.

Da Hessen gegen Sachsen verliert reicht unser 5,5-2,5, um wieder an die Tabellenspitze zurückzukehren.

Aufgrund der besseren Wertung gegenüber Sachsen sollten zwei Siege für die erfolgreiche Titelverteidigung reichen.

 

04.10.2023

08.30 Uhr: Runde 6: Hamburg – NRW

Der Vortag war ausreichend, um unseren Spielern zu signalisieren, dass keine Schwäche verziehen wird.

Wir dominieren den Kampf. Alicia spielt eine einfache Partie mit Schwarz, gleicht aus und einigt sich nach diversen Abtauschmanövern auf Remis. Auch Kai gönnt sich eine kreative Pause und spielt schnell Remis.

Der Rest gewinnt, wobei vor allem Eva und Hussain über ihre ersten Partiegewinne erleichtert und glücklich sind.

Mit dem 7-1 wird auch den Sachsen, die selbst 6-2 gewínnen, signalisiert, dass wir keine Geschenke mehr verteilen wollen.

Zur Belohnung gibt es den Nachmittag frei, sowohl hinsichtlich Vorbereitung als auch gemeinsamer Aktivitäten mit den Trainern.

Turnierleiter Harald Koppen erinnert erneut an das fehlende Mannschaftsfoto, das wir aber wie letztes Jahr erst nach dem Turniersieg machen wollen.

 

05.10.2022

08.00 Uhr: Runde 7: NRW – Baden

Eine halbe Stunde früher als sonst geht es ans Brett. Ich muss leider kurz nach Rundenbeginn schon abreisen, werde aber regelmäßig über den Verlauf informiert.

Der Kampf läuft gut. Kai lässt sich von der bisherigen Ausbeute seines Gegners (0 Punkte) nicht provozieren und remisiert eine ausgeglichene Stellung. Jonas tut es ihm nach, denn Maurin und Yaroslava stehen früh besser. Als dann Eva eine Gewinnstellung erreicht und Hussain Remis spielt, ist der Kampf praktisch gelaufen. Philipp baut seinen Vorteil immer weiter aus. Alicia steht ebenfalls besser.

Am Ende verwerten Eva, Yaroslava, Maurin und Philipp ihre Vorteile. Alicias Gegnerin gelingt durch umsichtige Verteidigung noch ein Remis.

Mit 6-2 setzen wir ein letztes Ausrufezeichen.

 

Fazit:

Trotz der Schwächen in einzelnen Kämpfen und der verdienten Niederlage gegen Hessen gewinnt NRW verdient das Turnier und verteidigt erfolgreich den Titel.

Wie die Mannschaft die Rückschläge wegstecken konnte und ab Mitte der fünften Runde das restliche Turnier dominierte, verdient größten Respekt.

Der Schlüssel zum Erfolg war das hervorragende Verhältnis der Spielerinnen und Spieler untereinander.

 

Und bei diesen Spielern, ihren Eltern, den Heimtrainern und Heimtrainerinnen und André möchte ich mich herzlich bedanken.